Vertrauensschutz bei falscher Auskunft der Arbeitslosenkasse

dRSK Kommentar zum BGE 8C_625/2018 vom 22. Januar 2019

Eine falsche Auskunft der Arbeitslosenkasse kann bewirken, dass ein juristisch unverbindliches Erlassgesuch des Versicherten von der Arbeitslosenkasse als Einsprache zu behandeln ist.

Sachverhalt:

A., Jahrgang 1963, war bis Ende Juli 2016 als Chauffeur angestellt und ab Anfang August 2016 ohne Anstellungsverhältnis. Seit dem 23. November 2015 war er arbeitsunfähig. Er erhielt Krankentaggelder der Allianz Krankentaggeldversicherung, welche die Leistungen per 14. März 2017 einstellte. 

In der Folge bezog A. Arbeitslosengeld bei der Arbeitslosenkasse des Kantons Zürich. 

Mit Verfügung vom 4. Oktober 2017 verneinte die Arbeitslosenkasse rückwirkend ab dem 15. März 2017 einen Anspruch von A. auf Arbeitslosenentschädigung und forderte bereits ausgerichtete Leistungen im Umfang von CHF 14’879.90 zurück. Sie begründete dies damit, dass gemäss der Koordinationsregel in Art. 70 ATSG die Krankentaggeldversicherung das volle Taggeld übernehmen müsse. Dies wurde A. von einer Mitarbeiterin der Arbeitslosenkasse per E-Mail mitgeteilt. 

Aufgrund dieser Rechtsauskunft erklärte er auf Rückfrage der Kasse, dass die gegen die Verfügung der Arbeitslosenkasse vom 4. Oktober 2017 erhobene Einsprache lediglich als Erlassgesuch zu behandeln sei. 

A. machte in der Folge geltend, dass die Arbeitslosenkasse das Erlassgesuch wie eine Einsprache hätte behandeln sollen, weil die ihm erteilte Rechtsauskunft falsch gewesen sei. 

Die Arbeitslosenkasse und das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich schützten die Auffassung von A. nicht. Das Bundesgericht dagegen schon. Es hiess seine Beschwerde gut.

Art. 70 ATSG Abs. 1 – Begründet ein Versicherungsfall einen Anspruch auf Sozialversicherungsleistungen, bestehen aber Zweifel darüber, welche Sozialversicherung die Leistungen zu erbringen hat, so kann die berechtigte Person Vorleistung verlangen.
Abs. 2 – Vorleistungspflichtig sind
a: die Krankenversicherung für Sachleistungen und Taggelder, deren Übernahme durch die Krankenversicherung, die Unfallversicherung, die Militärversicherung oder die Invalidenversicherung umstritten ist;
b: die Arbeitslosenversicherung für Leistungen, deren Übernahme durch die Arbeitslosenversicherung, die Krankenversicherung, die Unfallversicherung oder die Invalidenversicherung umstritten ist;
c: die Unfallversicherung für Leistungen, deren Übernahme durch die Unfallversicherung oder die Militärversicherung umstritten ist;
d: die berufliche Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge nach BVG für Renten, deren Übernahme durch die Unfall- beziehungsweise Militärversicherung oder die berufliche Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge nach BVG umstritten ist.
Abs. 3 – Die berechtigte Person hat sich bei den in Frage kommenden Sozialversicherungen anzumelden.

Erwägungen 
Strittig war gemäss Bundesgericht, ob der Beschwerdeführer gestützt auf den verfassungsmässigen Vertrauensschutz (Art. 9 BV) aufgrund der falschen Auskunft beanspruchen konnte, dass die Arbeitslosenkasse in einem Einspracheverfahren die Rechtmässigkeit der Verfügung vom 4. Oktober 2017 überprüfe und nicht bloss als Erlassgesuch. 

Das Bundesgericht stellte klar, dass die Mitarbeiterin der Arbeitslosenkasse klarerweise eine falsche Auskunft erteilt hatte. Art. 70 Abs. 2 ATSG kommt im Verhältnis zwischen der Arbeitslosenversicherung und Krankentaggeldversicherern nach VVG gemäss BGE 144 III 136 E. 4.3 nämlich nicht zur Anwendung (E. 5.2 mit Hinweisen auf die entsprechende Rechtsprechung). 

Ferner treffe es zwar zu, dass die Mitarbeiterin der Arbeitslosenkasse für eine Zusage von Leistungen einer anderen (privaten) Versicherungsgesellschaft nicht zuständig war. Allerdings bestehe gestützt auf Art. 27 ATSG eine Beratungspflicht der Arbeitslosenkasse hinsichtlich der Vorleistungspflicht der Arbeitslosenversicherung gegenüber der Invalidenversicherung. Dies gilt insbesondere, wenn die versicherte Person diese Bestimmung nicht kennt, wie in casu. Hinzu komme, dass mit der Auskunft vom 28. September 2017 auch eine (Vor-)Leistungspflicht der Arbeitslosenkasse im konkreten Fall verneint wurde. Im Verhältnis zwischen der Arbeitslosenversicherung und der vorliegend involvierten Invalidenversicherung besteht indessen aufgrund von Art. 70 Abs. 2 lit. b ATSG eine Vorleistungspflicht zu Lasten der Arbeitslosenversicherung. Für eine Auskunft zur Frage der (Vor-)Leistungspflicht der Arbeitslosenversicherung sei die Verfasserin des E-Mails jedoch zweifellos zuständig gewesen (E. 5.3).

Schliesslich ging das Bundesgericht auf die einzelnen Voraussetzungen des Vertrauensschutzes ein. Diese sind: 
(i) Vorbehaltlose Information;
(ii) Bezieht sich auf eine konkrete, den Bürger berührende Angelegenheit;
(iii) Die Amtsstelle, welche die Auskunft gegeben hat, ist hierfür zuständig oder der Bürger darf sie aus zureichenden Gründen als zuständig betrachten;
(iv) Unrichtigkeit der Information für Versicherten nicht erkennbar;
(v) Vorliegen einer nachteiligen Disposition aufgrund des Vertrauens in die falsche Information;
(vi) keine Änderung der gesetzlichen Ordnung seit Auskunftserteilung sowie 
(vii) Interesse am Vertrauensschutz überwiegt das Interesse an der Durchsetzung des objektiven Rechts.

Die Arbeitslosenkasse hatte den Versicherten aufgrund des Vertrauensschutzes schliesslich so zu stellen, wie er ohne die falsche Auskunft gehandelt hätte. Dann – so das Bundesgericht – hätte er die Einsprache nicht zugunsten eines blossen Erlassgesuches faktisch zurückgezogen. Die Sache wurde an die Arbeitslosenkasse zurückgewiesen. Sie muss ein Einspracheverfahren durchführen und in einem neuen Entscheid über die Rechtmässigkeit der Verfügung vom 4. Oktober 2017 befinden (E. 6).

Kommentar:
Da die von der Arbeitslosenkasse erteilte Auskunft offensichtlich falsch war, ist es nachvollziehbar, dass das Bundesgericht das Vertrauen des Versicherten geschützt hat. Als schädigende Disposition betrachtete das Bundesgericht die Erklärung, auf die an sich korrekt eingereichte Einsprache gegen die Rückforderungsverfügung zu verzichten und lediglich um Erlass zu ersuchen. Die Vorinstanz ging noch davon aus, dass die Arbeitslosenkasse nicht für Auskünfte über die Leistungspflicht einer anderen Versicherung haftbar gemacht werden könne. Darum aber ging es hier gar nicht. Die Mitarbeiterin der Kasse hatte wohl die Regelung gemäss Art. 73 KVG (die gestützt auf Art. 100 Abs. 2 bei Arbeitslosen auch für Versicherungen nach VVG gilt) im Auge. Diese Bestimmung regelt aber nicht die Vor-, sondern die definitive Leistungspflicht und setzt damit abgeschlossene Abklärungen über die Arbeitsunfähigkeit und deren Ausmass voraus. Genau dieser Punkt war aber – soweit der Sachverhalt dazu Auskunft gibt – höchst unklar.